» Lasst uns in die Stadt reiten, der Rest ergibt sich...
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Katalogtext
Meine einzige Detroit - Erfahrung liegt 22 Jahre zurück.
Ein paar Freunde aus Chicago wollten mir das „Ghetto Detroit“ zeigen. Weit kamen wir nicht, denn als wir im Sommer 1990 abends in die verlassene Innenstadt einfuhren, gerieten wir unter Beschuss
und verließen fluchtartig diesen Ort. Erst im Juni 2010 erkundete ich die Stadt erneut, diesmal auf dem virtuellen Weg. Google Street View ermöglicht fast jeden
Über- und Einblick aus gesicherter Perspektive, mit dem Kaffeebecher in der Hand. Beobachtungen, Fragen und Erkenntnisse folgten dieser virtuellen Betrachtungsweise.
Mit „meiner“ Google Street View Kamera befahre ich monatelang hauptsächlich den östlichen und nördlichen Gürtel um das Zentrum herum. Lasse mich
verführen vom Sog des „Goldrausch Feelings“, dieses oder jenes Häuschen für 1.000 $ zu kaufen. In meiner Phantasie sehe ich mich schon in einer sommerlich parkähnlichen Landschaft mit weiten
Wildblumenwiesen unter vereinzelt verstreuten Baumgruppen wohnen, das Stadtzentrum nur 5 km entfernt, quasi um die Ecke. Vielleicht fühlten auch die ersten weißen Siedler so? Das Zusammenleben
mit der ausschließlich afroamerikanischen Bevölkerung würde schon irgendwie klappen ... .
Ich entdecke immer mehr Häuser, die erst seit kurzem zum Kauf angeboten und von der ursprünglichen Besitzerfamilie scheinbar noch bewohnt werden. Da steht das Dreirad vor der Tür, Eltern sitzen
auf der von der Sonne beschienen Terrasse und plaudern mit dem Nachbarn. Das krasseste Beispiel ist der zufällig gefilmte Auszug einer Familie, die vielleicht gerade ihren Besitz an
Fanny Mae verloren hat, denn so wird eben dieses Häuschen in der Immobilienanzeige als „Traumobjekt für Investoren“ angepriesen.Die weiten Blumenwiesen dagegen entpuppen sich als entvölkerte Blöcke, die schon vor Jahren von Ruinen befreit wurden. Die verbleibenden 2 oder 3 Häuser dort
werden teilweise von mittellosen Menschen bewohnt, ohne Auto vor der Tür und ich frage mich, wie die im 5 Monate dauernden Winter bei - 20°C klar
kommen.
Supermärkte, Infrastruktur, all das ist nicht oder kaum noch vorhanden. Ganz bestimmt fährt hier kein Schneepflug vorbei. Das einzige, was gut zu gehen, so scheint es, sind die Kirchen und Liquor Shops an jeder dritten Ecke.
Mein anfänglich fast rauschhaftes Verlangen, solch ein Haus zu besitzen bekommt den bitteren Beigeschmack der Erkenntnis, dass das, was hier passiert, der totale Ausverkauf einer Stadt und ihrer Bewohner ist. Diesem Desaster eine Ausdrucksform zu geben, wird für mich zur künstlerischen Herausforderung.
Der Zyklus „Detroit Häuser“ entsteht.
All diese Häuser sind zum Verkauf angebotene, intakte und herunter gekommene Objekte aus den 1920er Jahren. Sie sind Zeugen einer Zeit des Booms und verkörpern den Erfolg und das Selbstbewusstsein, den American Dream, ein Haus und ein Auto zu besitzen. Jedes dieser Häuser könnte ein Traumhaus sein und hinter jedem dieser Häuser verbirgt sich der Ruin einer ganzen Familie. Aber auch mein eigener Voyeurismus ist Thema dieser Auseinandersetzung. Die Scham, solche Szenen „heimlich“ und unerkannt anzuschauen, anonymer Mitwisser zu sein.
Ich suche nach einer Ausdrucksform, die dieser Geschichte eine besondere Stimmung verleihen könnte.Die Schwarzweiß - Temperatechnik ist dabei allein auf hell-dunkel und scharf- unscharf beschränkt. Die Farbe zerfließt und verschwimmt zur Unschärfe, was meinen Gefühlen während dieser Auseinandersetzung entspricht. Anfänglich bestimmten meine Arbeiten mehr das Berichten und eine eher dokumentarische Herangehensweise. Das änderte sich, als ich die Detroiter Band „Medusa Cyclone“ für mich entdeckte. Ihre akustische Umsetzung der gleichen Thematik sollte mich nachhaltig beeinflussen. Die musikalische Auflösung von konkreten Klangstrukturen und Melodieformen zu monotonen Geräuschteppichen ließ auch in meinen Bildern die Formen und Objekte sich immer mehr auflösen. Wie für den einzelnen Betroffenen in der Realität verflüchtigt sich das Vertraute, Geordnete. Die sicher geglaubte Zukunft verschwindet im Ungefähren.
Anna Jander, Niederohe im Mai 2011
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